Stellvertretung und Milizsystem

Jean-Daniel Strub

Corona wirft die Frage erneut auf: braucht das Parlament eine Stellvertretungslösung?

Seit der Corona-bedingten Zwangspause kennt der Gemeinderat einen Livestream, und ein Grossteil der wöchentlichen Kommissions- und Fraktionssitzungen findet über Zoom statt. Innovation dank der Krise also auch hier. Doch die Begebenheit bleibt rar: Es ist äusserst selten, dass Parlamente etwas Grundlegendes an ihrem Funktionieren ändern.

Vielmehr agieren sie weitgehend nach althergebrachten Regeln, die lange vor dem digitalen Zeitalter entstanden sind und von den entsprechenden Möglichkeiten keinen Gebrauch machen. Kein Wunder, machten die Parlamente während Corona dicht. Ihre Weiterarbeit scheiterte unter anderem am hohen Stellenwert, den sie der physischen Präsenz der Ratsmitglieder beimessen. Das ist sicherlich berechtigt: Wählerinnen und Wähler müssen erwarten können, dass die Gewählten ihr Amt vor Ort und im direkten Austausch mit Gleich- und Andersdenkenden sowie der (medialen) Öffentlichkeit ausüben. Dabei setzt die  Lösungsfindung das unmittelbare Gespräch oft voraus und gelingt ausschliesslich online oder am Telefon nur schwer. Physische Präsenz muss aber nicht absolut gesetzt werden. Der Anreiz, vor Ort zu sein, ist sowieso hoch: Nur wer regelmässig anwesend ist und sich im Parlament aktiv einbringt, kann sich Gewicht erarbeiten und Einfluss nehmen. Deshalb würde die Möglichkeit eines temporären Verzichts auf physische Präsenz nicht zu einem Jekami führen. Es wäre aber ein Beitrag zur Stärkung des Milizgedankens, der sich Menschen mit starkem beruflichem und familiärem Engagement in politischen Ämtern wünscht.

Hier haben sich die Anforderungen in den letzten Jahrzehnten stark erhöht: Auslandaufenthalte, anspruchsvolle Weiterbildungen, berufliche Notwendigkeiten bei Partner(innen) führen dazu, dass immer wieder Ratsmitglieder trotz Motivation und Eignung vorzeitig zurücktreten müssen. Und zahlreich dürften all diejenigen sein, die aus diesen Gründen gar nicht erst für den politischen Betrieb gewonnen werden können. Deshalb haben die Fraktionen von SP, Grünen, GLP, AL und die EVP-Gruppe im Gemeinderat am 17. Juni eine Behördeninitiative zuhanden des Kantonsrats eingereicht, die verlangt, dass Gemeindeparlamente künftig die Möglichkeit einer Stellvertretungsregelung eingeräumt wird. Ratsmitglieder sollen sich für eine begrenzte Zeit durch eine ebenfalls demokratisch gewählte Stellvertreter(in) ersetzen lassen können. Gewinnen würden dadurch nicht nur die betroffenen Gewählten, sondern auch das bewährte Schweizer Milizsystem: Rücktritte und der damit verbundene Wissensverlust könnten vermieden werden, und geeignete Persönlichkeiten mit wertvoller Erfahrung könnten das Amt anders als heute überhaupt erst in Betracht ziehen. Was für hiesige Ohren ungewohnt klingen mag, praktizieren viele Westschweizer Kantone und Graubünden schon lange. Es stünde auch Zürich gut an.

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